Wenn Minneapolis näher ist als Hanau

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Hamburg, 19.06.2020 – von Seher Ünlü | Die Kameras und Politiker*innen haben Hanau längst verlassen. Stattdessen haben Sie sich Amerika zugewandt, dem gewaltsam rassistischen Mord an George Floyd und den Black Lives Matter Protesten. Die Anteilnahme an den amerikanischen Ereignissen war in der letzten Woche groß, vielerorts hier in Deutschland gingen Menschen zu Tausenden auf die Straße, um sich mit der Bewegung in den USA zu solidarisieren. Sie schienen getrieben von einem vermeintlichen Gefühl des Zusammenhalts. Zwei Wochen nach den Silent Demos in vielen deutschen Städten ist es aber wieder still geworden um das Thema Rassismus.

Ich frage mich: Wo waren diese Menschenmassen, als vor genau vier Monaten in Hanau neun unschuldige Menschen Opfer eines rassistischen Anschlags wurden?  Wo sind diese Menschen, Kameras und Politiker*innen jetzt, fast zwei Wochen nach den großen Demos in den deutschen Städten und vier Monate nachdem Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Kaloyan Verlkov, Vili Viorel Păun, Said Nesar Hashemi, Fatih Saraçoğlu sterben mussten? Die meisten sind wohl zu Ihrem Alltag zurückgekehrt, zu einem Alltag, in dem es keine Angst vor der Polizei, vor Diskriminierung und vor strukturellem Rassismus gibt.

Solingen, Mölln, NSU, München, Halle und Hanau: Die Menschen haben Angst

Deutschland hat ein Rassismus-Problem. Nicht erst seit gestern. Es zieht sich durch die Gesellschaft und ihre Institutionen und Deutschland schaut schon viel zu lange darüber hinweg. Menschen, die aus den verschiedensten Beweggründen nach Deutschland kamen, sich bemühten und immer noch bemühen dazuzugehören, die ebenso wie alle anderen eine Berechtigung haben Deutschland ihr Zuhause zu nennen, haben Angst. Um sich selbst, ihre Kinder und ihre Freunde. Fragt man sie, ob sie sich hier sicher fühlen, lautet die Antwort auf diese Frage oft: Nein. Fragt man sie, ob sich in den letzten Jahren nach Solingen, Mölln, nach dem NSU, nach München oder Halle etwas geändert hat, dann sagen die meisten: Nein. Die ständige Hypothese des verwirrten Einzeltäters ist falsch und blendet rechte Strukturen, ihre Mittäter und Mitwisser aus. Die politische Verantwortung wird abgegeben, Angehörige von Opfern und ganze Communities fühlen sich alleingelassen.

Das Rassismus-Problem muss strukturell angegangen werden

Es reicht nicht, schwarz gekleidet auf eine Demo zu gehen, dort ein Transparent in die Höhe zu halten und davon ein Foto zu posten. Es reicht nicht, eine Mitleidsbekundung auszusprechen und danach zu gehen. Es braucht echte Solidarität, die damit beginnt, den Leuten zuzuhören. Politische Entscheidungen und institutionelle Strukturen in Frage zu stellen, sich füreinander einzusetzen. Deutschland braucht unabhängige Ermittlungsbehörden, Netzwerke für Betroffene und ihre Familien, Strukturen, die sie stützen und stärken. Es braucht Bildung. Bildung darüber, wer diese Menschen mit dunkler Haut, mit den schwarzen Haaren und dunklen Bärten, mit den nicht deutschen Namen sind. Woher sie kommen, weshalb sie hier sind und warum niemand ihnen ihre Existenz in diesem Land absprechen darf.

Serpil Temiz, Mutter von Ferhat Unvar, fordert von Merkel, dass die Namen der Opfer von Hanau nie vergessen werden dürfen; sie sollten in der Schule gelernt werden und auf den Straßen lesbar sein. Sie fordert das, was bereits als Inschrift auf der Gedenktafel des Solinger Mahnmals niedergeschrieben ist:

„Wir wollen nicht vergessen.
Wir wollen nicht wegsehen.
Wir wollen nicht schweigen.“

In Gedenken an die Opfer des rassistischen Anschlags in Hanau vor vier Monaten am 19. Februar 2020 und aller zuvor an rassistischen Anschlägen ermordeten Opfer. Es waren zu viele.


Quelle Titelbild: AA