Policy Paper – Lokale Antworten auf globale Fragen: Instrumente zur Stärkung der Frauenrechte in der Türkei und in Deutschland

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Meryem Özge Karabağ – Ezgi Idil Tiryaki – Şirin Tiryaki – Yunus Emre Öztaş – İlayda Buse Uyar – Tuğba Betül Kahraman – Harun Önal – Aylin Çicek Olmuş – Can Yunus Öç – İlayda Çelik – Begüm Seyhan – Lale Diklitaş – Ayşe Kaşıkırık – Koray Özbağcı – Karolin Tuncel


Dieses Policy Paper basiert auf den Ergebnissen einer fünftägigen Projektreise nach Istanbul unter der Überschrift „Lokale Antworten auf globale Fragen: Instrumente zur Stärkung der Frauenrechte in der Türkei und in Deutschland“. Das Projekt wurde von den Deutsch-Türkischen JungdiplomatInnen e.V. und der türkischen Frauenrechtsorganisation Küresel Eşitlik ve Kapsayıcılık Ağı mit finanzieller Unterstützung der deutsch-türkischen Jugendbrücke durchgeführt. Das Policy Paper wurde im Original von den Teilnehmenden aus der Türkei und aus Deutschland in türkischer Sprache verfasst.

Lokale Regierungen, Nichtregierungsorganisationen, politische Parteien, Anwaltskammern und öffentliche Einrichtungen sollten zusammenarbeiten und einen gemeinsamen Weg zur Verteidigung der Grundrechte der Frauen beschreiten. Diese Institutionen können Good Practices verbreiten und bei regelmäßigen Treffen Erfahrungen austauschen. Dieses Strategiepapier enthält eine Analyse sowie konkrete Empfehlungen zu den folgenden Themen:

  1. Maßnahmen zur Bekämpfung von Femiziden
  2. Infrastrukturmaßnahmen für Frauen
  3. die Bekämpfung von Diskriminierung am Arbeitsplatz
  4. Beispiele für Good Practices in der Türkei und Deutschland

1. Maßnahmen zur Bekämpfung von Femiziden

Der Femizid ist die schwerste Form der Gewalt gegen Frauen. Der Hauptgrund für die Existenz eines solchen Konzepts ist die Ungleichheit der Geschlechter. Femizid ist ein Verstoß gegen das grundlegende Menschenrecht auf Leben. 

Obwohl in der Türkei und in Deutschland verschiedene Maßnahmen ergriffen wurden, ist kein signifikanter Rückgang der Zahl der Femizide zu verzeichnen. Nach den Statistiken, die über die betreffende Gewalt geführt werden können, steigt die Zahl der Femizide jedes Jahr. Im Jahr 2019 wurden in Deutschland 117 Frauen von ihren Ex-Partnern ermordet. Im Jahr 2020 stieg diese Zahl auf 139. Auch in der Türkei wurden im Jahr 2020 266 Frauen von Männern getötet, im Jahr 2021 waren es 280. Seit 2010 sind in der Türkei mindestens 2534 Frauen von Männern getötet worden. Die überwiegende Mehrheit dieser Zahl ist auf häusliche Gewalt zurückzuführen. 

Unsere Empfehlungen für das Problem lassen sich unter zwei Gesichtspunkten analysieren. Unter der ersten Überschrift können wir uns darauf konzentrieren, was getan werden muss, um die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu beseitigen, die der Grund für die Existenz von Femiziden ist. 

  • Schulung von Eltern, wie sie ihre Kinder gleichberechtigt erziehen können, unabhängig davon, ob es sich um Jungen oder Mädchen handelt,
  • Ausweitung der Koedukation und Anpassung der nicht-koedukativen Einrichtungen an die Koedukation (Zusammenlegung und Integration der Lebensräume von Mädchen und Jungen),
  • Veränderungen in der Sprache der Medien, die gesellschaftlichen Annahmen folgt, auf begriffliche Klischees zurückgreift und den gesellschaftlichen Rollen, die Frauen und Männern zugewiesen werden, Wert beimisst

Unter der zweiten Überschrift haben der Staat und zivilgesellschaftliche Organisationen die Verpflichtung, Femizide als soziales Problem zu verhindern. Diese können wir wie folgt auflisten:

  • Frauenrechtsorganisationen sollten die vom Staat veröffentlichten Daten überwachen. Die Verbände sollten überwachen, ob die Daten von den Medien der Öffentlichkeit wahrheitsgetreu präsentiert werden,
  • Die Erfüllung der Schutzverpflichtung durch die Justizbehörden des Staates sollte einer strengen Prüfung unterzogen werden. So sollte der Rat der Richter und Staatsanwälte (HSK) die Entscheidungen von Richtern und Staatsanwälten in Fällen von Gewalt gegen Frauen erfassen und überwachen, ohne in die Unabhängigkeit der Richter einzugreifen,
  • Strafmilderungen mit dem Argument der Notwehr (haksız tahrik) sollten bei Femiziden abgeschafft werden,
  • Es sollten strenge Kontrollen durchgeführt und Medienberichte, die das Privatleben des Opfers verletzen, rasch geahndet werden,
  • Bei Schutzanordnungen sollte ein aktives Follow-up des Gewalttäters und des Opfers gewährleistet sein. Während dieser Maßnahme sollten Maßnahmen ergriffen werden, um die Verletzung von Persönlichkeitsrechten zu verhindern.

2. Infrastrukturmaßnahmen für Frauen

Die vorhandene Infrastruktur, der Verkehr und die öffentlichen Infrastrukturdienste reichen nicht aus, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern und ein sicheres Umfeld zu schaffen. Obwohl die bestehenden Gesetze viele Möglichkeiten in diesen Bereichen bieten, ist die Umsetzung noch sehr unzureichend. 

Untersuchungen haben ergeben, dass Frauen am häufigsten zuhause Gewalt ausgesetzt sind. Aber auch im öffentlichen Raum (öffentliche Verkehrsmittel, Arbeitsplätze, Gemeinschaftsräume wie Parks, Gärten usw.) sind sie verschiedenen Arten von Gewalt ausgesetzt. Nach Angaben des türkischen Statistikinstituts (TurkStat) (Umfrage zur Lebenszufriedenheit, 2021) fühlten sich 35,5 % der Frauen unsicher, wenn sie nachts allein in ihrer Nachbarschaft spazieren gingen, während diese Quote bei den Männern 14,2 % betrug. Es ist jedoch ein Grundrecht, zu Hause, am Arbeitsplatz, auf der Straße, in der Nachbarschaft, in der Stadt, kurz gesagt, in allen Lebensbereichen ohne Angst zu leben.

Im Rahmen des „Rechts auf Stadt“ sollten die Kommunen Daten nutzen, um das Sicherheitsgefühl zu erhöhen und Aktivitäten zur Beseitigung von Problemen durchzuführen. An dieser Stelle sollen einige Ideen vorgestellt werden:

  1. Entwicklung von Anwendungen wie „meine lila Karte“ (Mor Haritam), die darauf abzielt, Gefahren zu minimieren, indem die Straßen angemessen beleuchtet werden, tote Winkel reduziert werden und die Meldung von unsicheren Bereichen erleichtert wird,
  2. Die Verbreitung mobiler Anwendungen und die Bereitstellung finanzieller Unterstützung durch die Stadtverwaltung, um Frauen in Not den Zugang zu Vollzugsbeamten zu erleichtern,
  3. Einrichtung spezialisierter Polizeieinheiten, die sich mit verschiedenen Arten von Gewalt im öffentlichen Raum befassen, und Verstärkung der Sicherheitskräfte,
  4. Die öffentlichen Verkehrsmittel sollten allgemein zugänglich und erschwinglicher sein,
  5. Verbreitung von “Panikknöpfen”,
  6. Erhöhung der Sicherheit und der Kapazität der Frauenhäuser, an die Gewaltopfer verwiesen werden, und Stärkung ihrer Infrastruktur.

Mögliche Kriterien hierfür sind:

  • Verhängung strafrechtlicher Sanktionen gegen die Betroffenen im Falle der Nichtanwendung der Gesetze und Verstärkung der diesbezüglichen Inspektionen, 
  • Durch die Prüfung der Gemeinden alle 24 Monate sollten Überwachungs- und Bewertungsberichte über die Umsetzung der genannten Empfehlungen erstellt werden,
  • Bereitstellung von häufigen und 24/7-Diensten im öffentlichen Verkehr,
  • Schulung der zuständigen Stellen und Mitarbeiter der Sicherheitskräfte zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen einmal im Jahr und Organisation von Sensibilisierungsmaßnahmen zu aktuellen Themen,
  • Forderung nach einer schrittweisen Erhöhung der Zahl der durch Gesetz und einschlägige Rechtsvorschriften geschaffenen Notunterkünfte und ähnlichen Einrichtungen,
  • Jede Gemeinde sollte verpflichtet sein, mindestens eine Notunterkunft einzurichten und die Zahl der Unterkünfte je nach Bedarf zu erhöhen.

3. Maßnahmen gegen Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz 

Geschichtlich betrachtet sind das Eigentum an den Produktionsmitteln und die Beteiligung an den Produktionsprozessen überwiegend eine Männerdomäne gewesen. Bis in die Neuzeit hinein war die Beteiligung von Frauen am Geschäftsleben begrenzt. Bei der Teilnahme am heutigen Arbeitsmarkt sind die Frauen mit geschlechtsspezifischen Ungleichheiten konfrontiert, die sie in jedem Bereich des gesellschaftlichen Lebens erfahren. Auf lokaler, nationaler und globaler Ebene wurden in den letzten JAhren verschiedenste Maßnahmen ergriffen, um die Ungleichbehandlung von Frauen zu verhindern. Obwohl diese Maßnahmen dazu beigetragen haben, die Ungleichheit von Frauen im Geschäftsleben zu verringern, ist festzustellen, dass diese Maßnahmen auch heute noch unzureichend sind. Ungleichheit gibt es nicht nur im Arbeitsleben, sondern bereits beim Eintritt in Arbeitsleben. Frauen haben noch immer nicht die gleichen Chancen wie Männer. 

Die Tatsache, dass die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in der heutigen Zeit auf die Tagesordnung gekommen ist, wird von Unternehmen, die aus Profitgründen handeln, ausgenutzt. Diese Unternehmen nutzen den Traum der Gesellschaft von einer gerechteren Welt aus, verschleiern aber die Ungleichheit, indem sie die Gleichstellung unter ihren eigenen Mitarbeitenden nicht umsetzen.

Beispielsweise ist Diskriminierung in der ersten Phase des Einstellungsverfahrens deutlich sichtbar. Sektoren werden in männer- und frauenintensive Sektoren unterteilt, und die Einstellungsverfahren basieren auf diesen Unterscheidungen. Darüber hinaus werden die Bewerberinnen und Bewerber in den Personalverfahren auch mit Situationen wie dem Militärdienst konfrontiert, die die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern fortbestehen lassen. Es ist auch üblich, dass Frauen während des Einstellungsverfahrens Fragen zu ihren Partnern gestellt werden. Die Tatsache, dass Details wie das Aussehen eine eine Rolle bei der Einstellung spielen, führt dazu, dass Frauen das Gefühl haben, ihre Geschlechterrolle aufrechterhalten zu müssen.

Einige der weitere Probleme sind: 

  • Beurteilung von Frauen im Geschäftsleben nach ihrem Aussehen,
  • Geschlechterungleichheit in hohen Positionen,
  • Das Recht auf Mutterschaftsurlaub wird Frauen und Männern nicht zu gleichen Bedingungen gewährt,
  • Geschlechtsspezifische Rollenverteilung innerhalb des Teams,
  • Körperliche/verbale Belästigung durch einen männlichen Vorgesetzten, um eine höhere Position oder einen Karriereschritt zu erreichen,

Vorschläge für konkrete Maßnahmen:

  1. Um die Chancenungleichheit zu vermeiden, mit der Frauen insbesondere bei Einstellungsverfahren konfrontiert sind, sollten Lebensläufe bei den ersten Bewerbungen ohne Foto, Name, Herkunft und Alter akzeptiert werden. Die anonyme Durchführung des ersten Schritts des Bewerbungsverfahrens wird daher einen integrativeren Prozess unterstützen,
  2. Um die Chancenungleichheit von Frauen sowohl im Einstellungsverfahren als auch im Geschäftsleben zu minimieren, sollten Personalverantwortliche, die die Hauptakteure in diesen Prozessen sind, verpflichtet werden, eine Schulung zum Thema „Gleichstellung und Integration am Arbeitsplatz“ zu absolvieren. Die Tatsache, dass Personalfachleute über ausreichende Kenntnisse zu diesem Thema verfügen, wird eine wichtige Rolle beim Abbau von Ungleichheiten am Arbeitsplatz spielen,
  3. Praktiken wie Quoten und positive Diskriminierung für die Beteiligung von Frauen am Geschäftsleben sollten weit verbreitet werden, und die Arbeitsmärkte sollten dementsprechen von zuständigen staatlichen Institutionen reguliert werden.

4. Beispiele für Good Practices in der Türkei und in Deutschland

Anhand einiger guter Beispiele aus Deutschland und der Türkei können wir die folgenden Praktiken empfehlen. Diese Empfehlungen können als Grundlage für einen guten Anfang genommen werden, aber diese Beispiele können auch erweitert werden. Um die Wirksamkeit der Praktiken zur Verringerung der Gewalt gegen Frauen und das Ausmaß, in dem sie die angestrebten Ziele erreichen können, zu messen, kann eine Bewertung anhand der Häufigkeit der Anwendung der Praktiken durch die Teilnehmer, der Datenanalyse vor und nach der jeweiligen Anwendung sowie der Kommentare und Vorschläge der Teilnehmer vorgenommen werden. Auf diese Weise kann durch die Entwicklung und Verbreitung einer nützlichen Anwendung ein wirksames Ergebnis erzielt werden. 

Good Practices sind beispielsweise:

  1. Die Anwendung „Meine lila Karte“ der Stadtverwaltung Ankara ist ein Beispiel. Diese Anwendung wurde in Ankara als Pilotanwendung gestartet. Da die Anwendung erfolgreich war, wurde sie weiterentwickelt und sechs weitere Gemeinden in das Projekt einbezogen. Das Projekt kann auf andere Gemeinden ausgeweitet werden,
  2. Quoten können auch von lokalen Verwaltungen eingeführt werden, um die Beteiligung von Frauen am sozialen und politischen Leben zu erhöhen. Auf diese Weise kann ein politisches Umfeld geschaffen werden, in dem Frauen eine aktive Rolle in der Verwaltung spielen,
  3. Politische Parteien können verpflichtet werden, ihre Versprechen zur Verhinderung von Gewalt gegen Frauen während des Wahlprozesses schriftlich und mit konkreter Begründung abzugeben. Eine solche Verpflichtung würde es den Parteien ermöglichen, bei der Formulierung ihrer Wahlversprechen deutlich zu machen, wie sie dies tun werden, und sich der Kontrolle der Wähler zu stellen, falls diese Versprechen nicht eingehalten werden,
  4. An den Universitäten können Mentoring-Aktivitäten durchgeführt und Quoten in den Fachbereichen eingeführt werden, um die Vorurteile gegenüber Fachbereichen abzubauen, die als „Frauenarbeit oder Männerarbeit“ angesehen werden.